Wir haben Susanne Neunes zum Thema seelische Gesundheit gefragt. Das ist der erste Artikel einer neuen Serie „5 Fragen an“. Weitere Hinweise gibt es unter dem Artikel.
Seelische Gesundheit was ist das eigentlich?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert psychische Gesundheit als „Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv und fruchtbar arbeiten kann und imstande ist, etwas zu seiner Gemeinschaft beizutragen“. Für mich ist diese Definition als Basis passend. Aus meiner Sicht bedeutet psychische Gesundheit aber auch mit mir selbst und meiner geistigen Verfassung umgehen zu können. Das bedeutet konkret Krisen zu erkennen, mit diesen umzugehen und sich Hilfe zu holen, falls nötig. Dies setzt natürlich voraus, dass man sich gut kennt. Also erkennen kann, wann die Psyche aus der Balance kommt. Übertragen in die Welt der Körperlichkeit: zu erkennen, dass die Nase anfängt zu laufen, der Hals kratzt und es ratsam wäre heute Abend zu Hause zu bleiben. Psychische Symptome sind deutlich schwerer zu erkennen, als körperliche – zumindest für uns als Wissensgesellschaft. Dazu kommt, dass es Zustände gibt z.B. das Verliebtsein oder während eines Umzug, wo wir Menschen durch psychische Krankheiten „durch gehen“. Verliebte Hirne gleichen dann denen eines an einer Zwangsneurose erkrankten und Menschen im Umzug haben häufig Anpassungsschwierigkeiten (sagen dem Taxifahrer nachts auch mal die alte Adresse). Sind die Menschen psychisch gesund oder krank??
Für mich sind psychische Symptome eine normale menschliche Reaktion auf eine unnormale Situation. Ein Burn Out ist eine psychische Erschöpfung, häufig gepaart mit körperlichen Symptomen welches nach einer langen Zeit der psychischen Überforderung einsetzt. Kurz gesagt, fühle ich mich wohl und lebe konfliktfrei ist die Chance hoch, dass ich psychisch gesund bin.
Psychische Störungen sind keine persönliche Entscheidung und werden nicht durch persönliche Schwäche verursacht. Obwohl die genaue Ursache der meisten psychischen Erkrankungen nicht bekannt ist, wird durch die Forschung klar, dass viele dieser Zustände durch eine Kombination genetischer, biologischer, psychologischer und umweltbedingter Faktoren verursacht werden – nicht durch persönliche Schwäche oder einen Charakterdefekt. Jeder kann psychisch erkranken. Auch im Zuge der New Work Bewegung sehe ich keine Reduktion der psychischen Erkrankungen auf uns zu kommen.
Dinge müssen fertig werden und laufen, sonst werden alle nicht mehr bezahlt werden können. Gibt es das nur in der IT?
Nein, das gibt es überall. Wir leben immer noch das Weiter, Schneller, Höher. Ich kenne kein Unternehmen, welches nur so viel Geld verdienen will, wie es braucht. Solange wir den Wert des eigenen Daseins nicht wertschätzen und darauf alles ausrichten, wird sich im Kern nicht viel ändern.
Arbeitsschutz in der IT – was denkst du darüber?
Arbeitsschutz allgemein ist eine gute Sache. Sie soll jeden Mitarbeiter vor körperlichen und psychischen Schaden bewahren. Natürlich auch Menschen aus der IT.
Seit Ende 2013 fordert das Arbeitsschutzgesetz explizit die Berücksichtigung der psychischen Belastung in der Gefährdungsbeurteilung (GB Psych). Das heißt: Alle Unternehmen und Organisationen müssen auch jene Gefährdungen für ihre Beschäftigten ermitteln, die sich aus der psychischen Belastung bei der Arbeit ergeben. Die Gefährdungsbeurteilung ist, auch ohne dass dies ausdrücklich vereinbart sein muss, gesetzlicher Bestandteil jedes Arbeitsvertrags. Das zur Theorie. In der Praxis setzt sich die GB Psych nur schwer durch. Ich schätze nicht mal 10 % aller Unternehmen haben sie durchgeführt. Wenn es anders wäre, dann hätten wir hier auch keinen Anlass für diesen Dialog.
Die GB Psych ist ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess, der keinesfalls Menschen psychisch durchleuchten oder zum “kollektiven Problemgang” einladen will. Nur um die häufigsten Vorurteile zu nennen. Ganz im Gegenteil. Im Grunde ist die GB Psych agil (also wertgenerierend) und wird individuell auf das Unternehmen angepasst. Es verkauft sich nur deutlich schlechter. Die ersten Gerichtsurteile sind rechtskräftig und im Zuge der Mitarbeiterbindung und dem Fachkräftemangel wird auch die GB Psych seinen Aufwind bekommen. Letztendlich bräuchte es einen mutigen Rechtsanwalt und einen noch mutigeren Mitarbeiter, der sein Burn Out ganz konkret auf die Arbeitsprozesse zurückführen kann. Er sollte dafür während seines schleichenden Krankheitsprozesses sehr viel verschriftlicht haben. Wer hat das schon? Wenn er dann auf einen innovativen Richter oder Richterin trifft, halte ich es für durchaus wahrscheinlich, dass dieses Gerichtsurteil einen Unterschied machen könnte.
Wenn ich mit meinen Problemen nicht mehr alleine sein möchte, wo bekomme ich Hilfe?
Nach Hilfe sollte ich als Erstes bei den Menschen, die mir am nächsten sind fragen. Also darüber sprechen wie es mir geht. Das nimmt meist schon den größten Druck. Hilft aber häufig nicht komplett. Es bieten immer mehr Unternehmen psychologische Unterstützung an. Häufig wird das allerdings nicht so publik gemacht. Daher lohnt es sich z.B. den Betriebsarzt oder den Betriebsrat zu fragen. Große Konzerne habe eine solche Unterstützung sehr häufig. Wer sein Leiden nicht dem Betrieb mitteilen möchte, der kann eine ambulanten Psychotherapie machen. In der Regel gehen psychische Erkrankungen immer mit körperlichen Leiden einher, daher ist es wichtig, dass diese als Erstes abgeklärt und therapiert werden. Wer kann schon z.B. mit einer akuten Lungenentzündung über sein Leben sprechen? Das bedeutet aber natürlich nicht, dass man komplett körperlich gesund sein muss, bevor eine Psychotherapie beginnen kann. Meist setzt eine komplette Genesung sowieso erst ein, wenn auch die Psyche wieder in Balance ist.
Einen Termin bei einem Psychotherapeuten bekommt man über die Terminservicestellen der jeweiligen Bundesländer. Eine Überweisung an den Psychotherapeuten ist nicht notwendig und die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten voll. Private Krankenkassen haben manchmal einen Selbstbehalt. Vor Beginn einer Psychotherapie finden „Probegespräche“ statt (probatorische Sitzungen). Hierbei prüfen Patient und Therapeut ob die „Chemie“ stimmt. Da sollte man sehr ehrlich sein. Lieber weiter suchen, statt bei bei einem Therapeuten bleiben, der man unsympathisch findet. Dann lieber gar nichts machen. Manchmal ist es auch gut sich stationär behandeln zu lassen. Also neben einer engmaschigen Begleitung auch weg von zu Hause zu sein. Letztendlich muss das jeder für sich selbst entscheiden. Wartezeiten gibt es leider bei ambulant und stationärer Therapie. Unser Gesundheitssystem ist aktuell auf eine schnelle und gute Behandlung von psychische Symptomen noch nicht ausgelegt und versucht damit aus meiner Sicht irgendwie umzugehen. Da gibt es aus meiner Sicht noch ganz viele Entwicklungsmöglichkeiten.
Projektdruck kann bis hin Existenzangst führen – wie schaffe ich es Verantwortung zu verteilen und Projektverzögerungen zu kommunizieren?
Ich behaupte, wenn Einladungen zur Verantwortungsübernahme und nicht ausrechende Kommunikation im Unternehmen lange toleriert wurden und durch Machtpositionen gestärkt werden, dann schafft man das nicht. Dann kann man nur ganz schnell gehen. Wenn aber von ganz oben Projektverzögerungen und überhöhte Verantwortungsübernahme nicht (mehr) erwünscht sind, dann gilt es Koalitionspartner zu finden und mit einer offenen Kommunikation einfach anzufangen. Außerdem ist es hilfreich zu Projekten, die man nicht schafft “Nein” sagen. Man darf in dieser Phase nicht erwarten, dass alle das verstehen. Das heißt, es ist äußerst förderlich, wenn man in dieser Zeit gut schläft, seine Akkus immer wieder gut auflädt, Humor hat und geduldig ist. Die Kultur eines Unternehmen ändert sich nur langsam und wird nur anderes durch die Menschen, die eine andere Kultur leben.
PS: zur besseren Lesbarkeit habe ich mich für die männliche Variante entschieden, gemeint sind natürlich alle Geschlechter, die es gibt.
Über dieses Projekt – 5 Fragen an…
Endlich haben wir eine Headline gefunden “Arbeitsschutz in der IT”. Das Thema versteht die Welt und wir können so mit Kunden, Entscheidern, Betroffenen und natürlich Organisationen reden. Damit wollen wir auf die Arbeitsbedingungen in der IT aufmerksam machen und diese verbessern. Wenn ihr euch hier auch äußern wollt, dann meldet euch einfach. Ihr bekommt dann 5 Fragen und einen Zugang. Keine Sorge, wir pflegen den Artikel gerne ein, kümmern uns um SEO und Bilder.
7 Kommentare
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[…] 8. Juni 2019 […]
[…] hat geklappt, meine Familie steht zu mir und ich mache auch gute Fortschritte in der Therapie. Eine Therapeutin fand ich schon im Januar. Die Diagnose lautet “Anpassungsschwierigkeit”, da es Burnout immer […]
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